»Wahrheit« (rta) umschreibt im Hinduismus keine fest umrissenen Lehr- und Glaubensaussagen, denn »Wahrheit« als ein unverrückbares Faktum gibt es nicht. Sie ist nicht als bestehende Heilsgewissheit vorgegeben, sondern eröffnet und erweitert sich dem Strebenden auf seinem Wege zum Ziel. So ist »Wahrheit« immer als Heilssuche zu verstehen.
Die Hindus betrachten ihre Lehren als den sanâtana-dharma, die »ewige« oder »wahre« Religion. Sie erheben für diese also sehr wohl einen Absolutheitsanspruch, fassen diesen aber nicht exklusiv in der Weise, dass abweichende oder andere Erkenntnisse neben den eigenen Einsichten als unwahr angesehen werden.
Der Hinduismus selbst ist ein Konglomerat verschiedenartigster Glaubensformen, die – so unterschiedlich sie auch sein mögen – dennoch Bestandteil eines ewigen Weltgesetzes (dharma) sind. Diese ausgesprochen liberale Position ermöglicht das produktive und friedvolle Nebeneinander, die gegenseitige Achtung und Anerkennung verschiedener Ansichten, so dass der westliche Betrachter leicht geneigt ist, im Hinduismus eine einheitliche Lehre zu sehen. Die umfassende Toleranz des indischen Geistes ist für Juden, Christen und Muslime nur schwer nachvollziehbar, da sie in einer Tradition der religiösen Konfrontation oder zumindest Abgrenzung stehen, wo bestenfalls die formale Duldung fremden Glaubens praktiziert wird, der Superioritätsanspruch der eigenen Lehre aber niemals aufgegeben wird.
In der Praxis hat diese tolerante Haltung dazu geführt, dass die Hindus (und auch Buddhisten) fähig waren, andere Religionen und Fremdeinflüsse zu assimilieren, ohne damit die eigene Identität preiszugeben. Das bedeutet, dass frühere oder abweichende Sichtweisen nicht notwendigerweise neuen Erkenntnissen weichen mussten, sie vielmehr in diese integriert wurden, was als durchweg positive Bereicherung gesehen wurde. Deshalb auch die Vielzahl der Götter, die Verschiedenheit von Riten und Gebräuchen, die unterschiedlichen Heilswege und Konzeptionen des Absoluten. Nie wäre es einem Hindu in den Sinn gekommen, diese Vielfalt in eine einheitliche Form zu pressen, geschweige denn einer unfehlbaren Organisation unterstellen zu wollen.
Der Hinduismus betreibt aufgrund seiner Beschränkung auf die eigene Volksgruppe keine Mission (er ist keine Universal-, sondern eine ethnische Religion). Die Vielgestaltigkeit seiner religiösen Aussagen lässt ihn ohnehin nicht auf Expansion angelegt sein. Die alles gewährende Toleranz und die Überzeugung, dass religiöse Wahrheit nicht andemonstriert werden kann, verbietet es dem Hindu zudem, einen Bekehrungseifer an den Tag zu legen.