In der Folge des europäischen Kolonialismus und dem Niedergang des Osmanischen Reiches wurden die hegemonialen Konflikte auf dem Rücken der islamisch geprägten Regionen ausgetragen. Ende des 19. Jahrhunderts empfanden viele islamische Intellektuelle die Überheblichkeit, die das europäische Orientbild prägte, als herabwürdigend. Im Sinne westlichen Fortschrittsdenkens betrachteten sie den Islam mit moderner Zivilisation und Wissenschaft als unvereinbar. Dagegen entwickelte sich auf der Südseite des Mittelmeeres eine aus dem Islam kommende Reformbewegung, die besonders durch Jamâl ad-Dîn al Afghânî, Muhammad Abduh, Rashîd Ridâ und Abd ar-Rahmân al-Kawâkibî (1854-1902) geprägt wurde. Sie versuchten ein erstarrtes Islamverständnis im Sinne einer vernunftgemäßen auf die veränderte Zeit bezogenen Auslegung von Koran und Sunna im Sinne des Idjtihad, also einer offenen Interpretation, zu verändern. Sie schlossen sich damit an die Reformbestrebungen im Mittelalter an. Das bedeutete zugleich, an die wahrhaften Ursprünge des Islam anzuknüpfen und damit auch die islamische Rechtsprechung zu aktualisieren. Der hier aufbrechende Grundkonflikt trat in seiner Schärfe erst nach der Unabhängigkeit der meisten islamischen Länder von der Kolonialherrschaft zutage.
Gemeinsame Gegner gegenüber den Unabhängigkeitsbestrebungen waren die Kolonialherren aus Europa und dem Osmanischen Reich. Der Islam wurde nun von den unterschiedlichen Reformrichtungen als einigende Kraft angesehen, um die Gemeinschaft aller Muslime, der „umma“, wiederherzustellen. Reform hin zu den Basis-Werten des Islam ist damit Vorwärts- und Rückwärtsbewegung zugleich. Dies macht die Beurteilung islamischer Reformbewegungen in der Gegenwart ausgesprochen schwierig.
Hier eine grobe Strukturierung:
* Konservative Reform: Zwischen der fundamentalistischen Form des Islam und den sog. liberalen Strömungen dürfte Tariq Ramadan (geb. 1962 in Genf, in England lebend), Enkel von Hassan al Banna, anzusiedeln sein, der sich für eine Inkulturation islamischer Werte unter den modernen gesellschaftlichen Bedingungen Europas einsetzt.
Reinhard Schulze: Geschichte der islamischen Welt im 20. Jahrhundert. München: C.H. Beck 1994