Reformen im Islam (Mittelalter)


CC-BY  Dr. Reinhard Kirste Nachschlagen

Seit dem 8. Jahrhundert verstärkten sich wichtige Entwicklungen der islamischen Kulturgeschichte. Die Abbasiden übernahmen von den Umayyaden die Macht. Nach Damaskus wurde Bagdad Hauptstadt der muslimischen Welt und bildet bis zu seiner Zerstörung durch die Mongolen im Jahre 1258 das weltlich-kulturelle Zentrum der östlichen islamischen Hemisphäre. Gleichzeitig werden durch die arabische Eroberung des größten Teils der Iberischen Halbinsel seit 711 Granada, Córdoba, Sevilla und Toledo zu Zentren islamischen Geisteslebens. Künste und Wissenschaften, Jurisprudenz und Philologie, Theologie und Philosophie entwickeln sich zu nie dagewesener Blüte. An den islamischen Universitäten wurden die griechischen und lateinischen Philosophen und besonders Plato und Aristoteles übersetzt und kommentiert. Diese arabischen Übersetzungen und Kommentare bilden die Voraussetzung für die Übernahme der griechisch-lateinischen Denktradition in das christliche Europa.

In diese Zeit fiel jedoch auch die Systematisierung des Islams als Gesetzesreligion. Die Gründer der vier orthodoxen Rechtsschulen, Abu Hanifa (Hanafiten), Malik ibn Anas (Malikiten), Mohammed ibn Idriss as-Schafii (Schafiiten) Ahmad ibn Hanbal (Hanbaliten) behandelten eingehend jede, das weltliche und geistige Leben betreffende Frage. Die auf dem Koran und der Prophetentradition – der sogenannten Sunna – gründende ethische und rechtliche Orientierung unter dem Rahmen der Scharia bremste die neuen Entwicklungen teilweise aus, obwohl nach weitgehendem islamischen Verständnis die Idjtihad ( = das Tor der Auslegung) immer offen ist, also eine verstandesgemäße aktualisierende Auslegung möglich bleibt.

Besonders die Auseinandersetzung mit der rationalistischen Glaubensschule der Mutaziliten (auch: Mu’taziliten, Mutasiliten oder Mutalisiten – von arab. mu’tafil, Separatist; die Zurückgezogener), führte schließlich dazu, dass etwa vom 12./13. Jahrhundert an kaum noch neue Ideen zum Zuge kammen, weil die Theologen in ihrer Jurisdiktionsfunktion die freie Forschung mehr und mehr einschränkten. Im Rahmen einer mehr spekulativen Theologie (kalam) setzten sie wie auch der zentralasiatische Aristoteles-Spezialist und Musikwissenschaftler al-Farabi (870–950) setzte als oberste Instanz das Verstehen ein. Die Auseinandersetzung des Mediziners, Philosophen und Mystikers Ibn Sina (latinisiert = Avicenna, 980–1037) mit dem berühmten spanischen Arzt und Philosophen Ibn Rushd (latinisiert = Averroës, 1126–1198) und umgekehrt bezog sich auf die Übernahme der hellenistischen Philosophie und einer daraus zu entwickelnden Koran-Hermeneutik mit den dazugehörigen Evidenz-Kriterien. Die Philosophie des Averroës beeinflusste die gesamte mittelalterliche christliche Theologie, bis der Averroismus auf dem 5. Laterankonzil 1513 unter Papst Leo X. kirchenamtlich verboten wurde.

siehe Sufismus (Mittelalter)

Ulrich Haarmann (Hg.): Geschichte der arabischen Welt. München: C.H. Beck 1987 Annemarie Schimmel: Mystische Dimensionen des Islam. Die Geschichte des Sufismus. Köln: Diederichs 1985