Nach dem siehe Konfuzianismus bildet der Taoismus (oder Daoismus) die zweite große Geistesströmung des chinesischen Denkens. Das Wort »Taoismus« kommt von »Tao« (Dao) und bedeutet »Weg« und »Vernunft« zugleich.
Die Lehre des Taoismus geht zurück auf Lao-tzu (auch: Lao-Tse oder Laotse), einen chinesischen Weisen des 6. Jh. v.Chr. Von Beruf war er offizieller Geschichtsschreiber im Staate Ch’ou (Tschou). Nachdem er den Zerfall seiner Heimat erblickte, zog er fort – und niemand weiß, wo er geendet hat. Zuvor aber legte er seine Gedanken in einer kleinen Schrift nieder, die der Nachwelt als eines der erhabendsten Bücher der Weltliteratur erhalten blieb – dem Tao-te ching (auch: Tao-te-king oder Daode jing).
Tao ist der unfassliche Urgrund des Universums, das Gesetz aller Gesetze und das Maß aller Maße. Tao ist als das Un-Bedingte und in sich selbst ruhende Eine auch eine Bezeichnung für das »Absolute«. Das Tao selbst hat aber keinen Namen; es ist verborgen und namenlos. »Ich weiß seinen Namen nicht, aber ich nenne es Tao«, sagt Lao-tzu. Ist das Tao unfassbar und namenlos, dann ist es doch das Höchste, was wir an Erkenntnis erlangen können: nämlich die Gewissheit unseres Nichtwissens. »Erkennen des Nichterkennens ist das Höchste« (Tao-te ching, Kap. 71). »Nicht ausgehend zur Tür, kennt man die Welt; nicht ausblickend durchs Fenster, kennt man des Himmels Weg. Je weiter man ausgeht, desto weniger kennt man …« (Kap. 47).
Gleich dem Konfuzianismus [siehe Konfuzianismus (Philosophie)] lehrt auch der Taoismus keine Weltflucht und Askese. Gelehrt wird die rechte Mitte und die Selbstlosigkeit. »Nicht sich siehet er an, drum leuchtet er; nicht sich ist er recht, drum zeichnet er sich aus; nicht sich rühmt er, drum ragt er hervor« (Kap. 22). »Wer andere überwindet, hat Stärke; wer sich selbst überwindet, ist tapfer« (Kap. 33).
Wie der Konfuzianismus strebt auch der Taoismus nach dem »rechten Maß« und betont die Harmonie der kosmischen Ordnung. Die siehe Ethik des Tao-te ching betont die Einfachheit und die innere Ruhe. Der Mensch soll in der Welt stehen, sich gleichzeitig aber so verhalten, wie wenn er nicht von dieser Welt wäre. Er soll handeln durch ein Nicht-Handeln (siehe Wu-Wei), die Dinge handhaben, ohne Besitz von ihnen zu ergreifen, die Arbeit tun, ohne Eigendünkel zu entwickeln. Er soll in der Einfachheit Genüge finden und dabei eitle Vorhaben, Gewinn, Selbstsucht und Klügelei meiden. Das Ziel des Edlen besteht demnach in der Entäußerung des eigenen Selbst und im Gewinn von Stärke durch Verzicht. »Wer verzichtet, gewinnt« (Kap. 44).
Zwischen Taoismus und Konfuzianismus bestehen zahlreiche Gemeinsamkeiten, aber auch deutliche Unterschiede, die vor allem in der taoistischen Ablehnung äußerer Vorschriften und Konventionen und in der Geringschätzung von Bildung und Intellektualismus zutage treten. Vom siehe Buddhismus übernahm der Taoismus viele inhaltliche und institutionelle Wesenszüge (z.B. Klosterwesen und die Nachbildung taoistischer Texte nach buddhistischen Vorlagen, Aufnahme verschiedener buddhistischer Heiliger in das taoistische Pantheon usw.).
Im Lauf der Geschichte beschäftigte sich der Taoismus vermehrt auch mit Magie, Alchemie und Methoden zur Lebensverlängerung (chin. shou). Dadurch verwässerte sich die Lehre mit zahlreichen Elementen, die mit den ursprünglichen Lehren des Lao-tzu wenig bis nichts gemein haben.
Neben Konfuzianismus und Buddhismus ist der Taoismus in ganz Ost- und Südostasien verbreitet (China, Korea, Japan, Taiwan, Vietnam, Singapur), wo die drei Lehren eine Art religiöser siehe Synkretismus bilden.